German prose

UNVERWECHSELBARER TONFALL

Es wurde ein nicht allzu viel versprechender japanischer Film gegeben. In der Teestube, die in der Vorhalle des Kinos eingerichtet war, herrschte Stimmengewirr. Den sich unterhaltenden Menschen sah man an, dass sie einander und das Terrain gut kannten, und das verdross Jenő. Er kaufte sich lieber eine Karte und setzte sich in den Zuschauerraum. Das Publikum sammelte sich langsam und stumm, nur einige, sich in die hinteren Reihen verziehende Japaner plapperten in einer Tour. Man war schon dabei, die Türen zu schließen, als ihm einfiel, dass den Text des (laut Prospekt) japanischsprachigen, mit englischen Untertiteln versehenen Filmes ein Synchrondolmetscher ins Ungarische übertragen würde, und er sich dann aber noch ein Empfangsgerät besorgen müsse. Er eilte raus und lieh sich ein Gerät. Du bist vielleicht ein Idiot, bist unter den Ersten gekommen und verpasst den Anfang jetzt fast…murrte er vor sich hin, als es ihm gelungen war, sich in den Saal zurückzuschleichen.

Als er die Stimme des Synchrondolmetschers hörte, fuhr er zusammen. Er hätte schwören können, dass er seinen Bekannten namens T. sprechen hörte. Sie waren Kommilitonen an der Universität gewesen, ein einsamer Typ mit einem unverwechselbaren Tonfall: Zwischen seinen zusammengepressten Lippen brachen die Laute gedehnt und doch zu weich hervor. Ihm war unbehaglich zumute. Jemand, den er nur flüchtig kannte, flüsterte ihm jetzt auf die intimste Art und Weise ins Ohr. Dass der Flüsterer sich aller Wahrscheinlichkeit nach an völlig Fremde zu richten glaubte, steigerte das Unangenehme der Situation. Jenő hatte das Gefühl, eine Beichte oder ein ärztliches Geheimnis zu belauschen, ja sogar zu verraten. Als hätte er die Anonymität gebrochen, die T. bis dahin durch seine Arbeit gesichert gewesen war.

Dann wurde er doch unsicher. Vielleicht hat er es nur mit einem Stimmen-Doppelgänger zu tun. Er lauerte auf die lispelnde Laute, die falsch ausgesprochenen R-s, doch mal bestätigten ihn diese, mal verunsicherten sie ihn aufs Neue. Obendrein konnte T. kein Englisch, geschweige denn Japanisch. Unmöglich, dass er trotzdem so fließend übersetzte. Auch kam in ihm Neid auf: Denn warum hätte T. – fanatisch wie er war – nicht hinter seinem Rücken Englisch oder Japanisch lernen können? Sogar perfekt. Im Gegensatz zu Jenő, der auch nach zehn Jahren leicht durcheinander zu bringen war, wenn es um grundlegende Kenntnisse aus seinem Germanistikstudium ging, und dem es allein beim Gedanken von jedwedem (geschweige denn Synchron-) Dolmetschen heiß und kalt den Rücken herunterlief.

Während des Filmes, wurde er auf einige Merkwürdigkeiten aufmerksam: T. übersetzte, und das erfüllte ihn mit einer gewissen Schadenfreude, manche Sätze schon im Voraus, noch ehe sie geäußert worden oder gar als Untertiteln erschienen waren, ein andermal brachte er solch mustergültige, aus dem Mund eines Synchrondolmetschers ungewöhnlich klingende Sätze zustande, wie : „Der Hunger ist der beste Koch“ oder „Zeig mir deine Freunde, und ich sag dir, wer du bist“. Das kann man, nur so aus dem Stehgreif nicht bringen, stellte er mit Genugtuung fest. T. (denn aller Wahrscheinlichkeit nach war er es) saß und las also nur. Das hätte sogar Jenő tun können ( hier lief zwar wieder eine Welle von Neid durch seinen Kopf: er wird bei diesem Auftrag nicht schlecht kassieren, ihm selbst wird so was natürlich nie angeboten, doch er verjagte den Gedanken, denn die Situation versprach interessant zu werden und verlangte einen ganzen Mann).

Er stellte sich vor, wie T. oben in der Kabine hinter der Glaswand kauerte, Lampenlicht auf seinen Text fiel und er in seiner gelangweilten Nasalstimme vorlas. Wenn im Film Musik oder eine längere Tonpause folgte, schaltete T. das Mikrofon aus: Vermutlich trank er einen Schluck oder rauchte. Nie war er ohne Zigarette zu sehen gewesen. Jenő, da er ein Mensch ohne Laster war, beneidete ihn auch darum. Er beneidete T. ohnehin um vieles. Er beneidete ihn um seine besseren Kleidungsstücke, die dieser mit lässiger Selbstverständlichkeit trug. Er beneidete ihn, weil er so sachkundig aschte, den Kaffee umrührte, er beneidete ihn um seinen Blick, mit dem er in der Regel glasig durch ihn hindurchschaute. Er beneidete ihn, weil er nie in Verlegenheit kam, nie gezwungen wirkte (es mag aber auch sein, dass er seine Verlegenheit nur besser kaschieren konnte als Jenő, es mag sein, dass auch Jenő seine Verlegenheit nicht so sehr anzusehen war). Und er schämte sich für seine unerwiderten Begrüßungen, die er, womöglich, gerade in einem schlechten Moment von sich gegeben hatte, als T. noch oder schon außer Hörweite gewesen war. Er schämte sich, dass er mit ein paar Worten nicht so vernichtend frappant sein konnte wie T, obwohl möglich, dass auch T. nicht frappant war, ihm das Ganze bloß egal war, und Jenő schämte sich wiederum dafür, dass ihm nichts egal war und dass es ihm einfach nicht gelingen wollte, frappante Sachen auf eine frappante Art vorzutragen, obwohl er sich für keinen schlechten Redner hielt (Jenő war redesüchtig). Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass ihn eine Reihe ungeklärter Schamgefühle von T. trennten (oder gerade mit ihm verbanden). Ein Bild war ihm besonders klar im Gedächtnis geblieben: Er saß im Park neben der Universität, seine Tasche auf den Schoß gelegt, auf der Tasche ein Blatt Papier, ein Kugelschreiber in der Hand. Seit geraumer Zeit schon wartete er auf eine halbwegs vernünftige Zeile (Jenő schrieb manchmal). Da wurde er auf T. aufmerksam, der unweit von ihm Platz genommen hatte. Dieser bemerkte ihn gar nicht, oder tat nur so (so oder so, er war im Vorteil), und begann in ein kariertes Schulheft zu schreiben. Er schrieb in einem fort, ohne Unterbrechung, hob seinen Blick kaum. Mit einer instinktiven Eifersucht hatte Jenő schon früher in T. den Rivalen gewittert, jetzt sah er seinen Verdacht bestätigt. Aus humaner Veranlassung versuchte er sich selbst zu täuschen, wie es rücksichtvolle Angehörige mit einem Kranken tun: Vielleicht bereitete sich T. auf seine Seminararbeit vor. Das war jedoch eine derart unwahrscheinliche und mit der Natur T.’s dermaßen unvereinbare Annahme, dass Jenő, wäre er nicht in einem solch jämmerlichen Zustand gewesen, vermutlich laut aufgelacht hätte. Möglicherweise wäre ihm zu einem anderen Zeitpunkt das Schreiben auch leichter gefallen, er hatte ja einige ganz gelungene Sachen, und möglicherweise schrieb T. Prosa, was sich entweder in einem Zug lohnt, oder gar nicht – am Wesen der Sache änderte das jedoch nichts.

Den Saal erfüllte indessen Heiterkeit, die durch einige banale, humorvolle Szenen des Films hervorgerufen worden war. Nur die Japaner lachten in diesen Momenten nicht. Von Zeit zu Zeit brachen auch sie in Gelächter aus, doch dies verhallte im luftleeren Raum: Die anderen hatten nicht die leiseste Ahnung, worüber sie gerade jetzt lachen. Der Zuschauerraum schwankte zwischen diesen beiden Arten von Vergnügtheit. Jenő spitzte die Ohren, ob T. vielleicht auch lachte. Er hätte sich nicht gewundert, wenn er sich mit den Japanern zusammen amüsiert hätte. Aber nichts. Vielleicht hatte er den Film schon gesehen.

Jenő konnte sich, obwohl er sich auf die Bildfolgen konzentrierte, nicht von T.’s Anwesenheit befreien. Die Stimme hielt ihn unerträglich umschlossen, trotzdem hätte er den Kopfhörer nicht von Kopf reißen können. Die Möglichkeit der Konfrontation quälte und faszinierte ihn zugleich. Jetzt störte ihn auch das Inkognito nicht mehr, ja, er lauerte vielmehr mit der Begierde eines Spanners auf jedes kleine Geräusch, jeden Atemzug, auf jedes verhaltene Flüstern, auf jedes lautere Schlucken. Der Spieß wurde umgedreht, als würde er jetzt seinen Mann jagen und nicht er ihn. In Gedanken glaubte er den Geier-Blick des vom Lande kommenden Jungen (er soll auch in einem Arbeiterheim gewohnt haben) zu sehen, den Ehrgeiz, sich um jeden Preis durchzusetzen, und er verachtete ihn, umso selbstsicherer, je stärker er spürte, dass auch in ihm dieser Ehrgeiz arbeitete.

Er erinnerte sich auch daran, als ihm zufällig ein Text T.’s in die Hände geraten war. Es hatte ihn erleichtert: Die stilistisch einwandfreien Zeilen klangen hier und da falsch oder hohl, zu deutlich war ihnen anzumerken, gefallen zu wollen. Jenős Anspannung ließ langsam nach. Es wurde ihm klar, dass das Besondere an T. nicht darin lag, dass er schrieb, dies konnte er natürlich erst jetzt so deutlich formulieren, sondern von seinem Charakter herrührte, über den er jedoch, zumindest vorerst, nicht schreiben konnte oder wollte. T. stieg auf einmal vom Sockel seiner ewigen Überlegenheit, wie er wahrscheinlich auch gerade dabei war, die Projektionskabine zu verlassen: Der Film war zu Ende. Das bisher spukende Gespenst wurde zu einem harmlosen Studenten. Er hatte nichts Ungreifbares an sich, seine Geheimnisse waren offensichtlich nicht geheimnisvoller als die von jedem anderen, man hätte was zusammen trinken können. Daran dachte Jenő bereits in der Vorhalle umherschlendernd. Er wusste nicht, wo der Ausgang der Projektionskabine war, von wo er T. zu erwarten hatte. In der Teestube war der Betrieb wieder voll im Gange. T. wird mit dem Mechaniker befreundet sein. Sie rauchen eine Zigarette, unterhalten sich. Vielleicht ist es ja auch eine Mechanikerin, so leuchtet einem T.’s Neigung zum Film noch leichter ein. Es kann aber auch sein, dass er durch irgendeinen Dienstausgang schon längst gegangen ist. Und was, wenn derjenige doch nicht T. gewesen war, sondern nur dieser gewisse Stimmen-Doppelgänger, der sich, angesichts dessen, dass Jenő ihn gar nicht kannte, ohne weiteres in der Menge aufhalten konnte? Jenő trat durch die Flügeltür auf die Straße, selbst zum Hass fehlte ihm die Kraft.

Aus dem Ungarischen von Krisztina Meyer
German version © by Krisztina Meyer